…oder was geschieht, wenn normal Sterbliche mit Theaterprofis aus der Welt-Kultur-Hauptstadt zusammenarbeiten.
Tag 1, Dienstag 10h, Probebühne 6: „Ihr seid ein wichtiger Teil der Show. Keine Backings. Ihr könnt euch nicht im Hintergrund verstecken. Von der Idee her solltet ihr jederzeit die Führung der Show übernehmen können.“ Die kleine „Los geht’s“-Eröffnungsrede des New Yorker Regie-Duos Pavol Liska und Kelly Copper verfehlt ihre Wirkung nicht. Ihr Tonfall macht klar, dass die Aussage nicht dem Motto „Übertreibung macht anschaulich“ folgt. Sie ist völlig ernst gemeint. Die Messelatte der Koproduktion des New Yorker „Nature Theater of Oklahoma“ (NToO) und des Wiener Burgtheaters hängt hoch. Bei „Life and Times, Episode 2“, das im Rahmen des Hamburger Kampnagel „Live Art Festival“ seine Deutschlandpremiere feiert, wird Perfektion verlangt. Von allen. Auch von uns Extras, die wir aus rund 50 Leuten ausgewählt wurden, um die Darsteller im letzten Teil des Stücks als „Bewegungschor“ zu unterstützen.
Ba ba bah ba da la ba ba bah
Unsere Aufgabe ist es, in nur wenigen Tagen gut zwanzig Minuten Musik und Bewegungen auswendig zu lernen, zu verinnerlichen und voller Ausdruck dem Publikum zu präsentieren. Robert M. Johanson, kurz Bobby, Schauspieler und Sänger, Co-Komponist des Stücks und musikalischer Schleifer, übernimmt das Ruder. Groß, schlank, mit dicker Hornbrille, 3 Wochen-Bart und einem T-Shirt, auf dem in fetten, orangenen Lettern „NYC“ steht. Vielleicht ein Hinweis durch die Blume: „If I can make it there, I’ll make it anywhere…!“ Das Projekt ist schließlich New York im Exil…
Bobby legt ein straffes Tempo vor. Seine Regel: „Alle bereit? Wenn niemand ‚nein‘ sagt, geht’s sofort los.“ Töne und Einsätze werden uns in der immer gleichen Reihenfolge per Frontalunterricht eingepaukt. Jede Stimme wird einmal vorgespielt, dann mehrfach gesungen. Bass, Tenor, dann die Männer zusammen. Alt, Sopran, dann die Frauen zusammen. Zum Schluss alle. Erst à cappella, dann mit Playback und Übergängen. Stichworte. Noten. Text. Änderungen im Skript. Ohne Angabe von Tönen aus dem Steggreif die richtigen Harmonien treffen. Puh. Entspannt ist anders. Ich frage mich, wie es meinen Extras-Kollegen geht. Von außen erkenne ich bei ihnen keine Irritationen. Aber niemand redet, alle schauen gebannt in ihre Noten. Die Konzentration im Raum ist körperlich spürbar.
Zack, zack, zack!
Tag 2, Mittwoch, 16.45 h, Probebühne 6: Mein Hirn ist voll. Die letzten knapp drei Stunden Choreografieprobe kommen mir mindestens doppelt so lange vor. Konzentrieren kann ich mich schon eine ganze Weile nicht mehr. Doch Nora will mehr. Nora Hertlein, Powerfrau des Wiener Burgtheaters und bei dieser Produktion unser „Dance Captain“, hat die Aufgabe, uns all die kleinen Schritte ins Hirn zu prügeln, die sich so ähneln, dass ich sie immer wieder verwechsele. Und nicht nur ich… „Nora ist echt eine Maschine“ raunt mir Alt-Kollegin und Musicalschauspielerin Buri Batmaz zu, während wir an dem Übergang zwischen zwei Nummern feilen. Nora Hertleins Energie scheint in der Tat unerschöpflich zu sein. Bewegung und Gesang passen noch nicht zusammen. Also wird die gleiche Stelle nochmal geprobt … und nochmal … und nochmal. Bis sie wirklich sitzt. Bei allen. Denn es reicht nicht, sich nur auf die richtige Reihenfolge der Schritte zu konzentrieren. Auf der Bühne wird zusätzlich zur Bewegung schließlich auch noch gesungen.
Aber ist nun „Julie Line“ 1 oder 2 an der Reihe, „Cabbing“ 1 oder 2, muss ich beim „random walk“ mit dem rechten oder linken Fuß schließen, wie gingen die „Footphrases“ noch einmal??? Ich beginne an uns zu zweifeln und frage mich, ob die Proben ausreichen, um uns Bühnenfit zu bekommen. Selbst die fünf New Yorker „Super-Extras“, die „Episode 2“ bereits in New York einstudiert haben und unseren Bewegungschor vervollständigen, verhaspeln sich regelmäßig. Das beruhigt mich zwar ein wenig. Aber ich weiß: Zum Schluss wird Perfektion verlangt.
16 Stunden ah, like, you know
„Life and Times“ ist ein besonderes Stück. Nicht nur, dass es auf epische zehn Episoden angelegt ist, die in den kommenden Jahren produziert werden sollen (mit Episode 1 war das NToO vergangenes Jahr beim Berliner Theaterfestival). Sein Text besteht aus reiner Umgangssprache – inklusiver aller ähs und alsoooos. In rund 16 Stunden hat Kristin Worrall den beiden Regisseuren am Telefon ihr ganz gewöhnliches Durchschnittsleben erzählt. Und die Transskripte dieser Gespräche ergeben 1:1 das Libretto.
„Am Anfang wollte ich nicht, dass Pavol sagt, dass es sich um mein Leben handelt“, erzählt mir Kristin Worrall in einer Probepause. Wie schon bei Episode 1 ist sie auch diesmal wieder mit dabei. „Mittlerweile habe ich die Geschichte aber abgegeben. Sie ist zu Kunst geworden. Ich vertraue Pavol und Kelly. Allerdings frage ich mich mittlerweile manchmal, warum ich welche Anekdoten erzählt habe. Über meinen Bruder habe ich zum Beispiel so gut wie gar nicht geredet…“ Immer wieder ertappe ich mich dabei, meine eigenen Erfahrungen mit Kristins zu vergleichen, als wären sie eine Blaupause für das Leben heutiger, westlich zivilisierter Mittdreißiger. Immer wieder erstaunt es mich, wie viele Parallelen ich finde.
Tag 3, Donnerstag, 14h, K2: Yes!!! Das war ein guter Morgen! Unser Gesang läuft, von ein paar Feinheiten abgesehen, schon richtig gut. Der Applaus ungesehener Passanten driftete zwischenzeitlich durch die milchigen Fenster der Probebühne. Vor allem aber haben wir endlich mit den Hauptdarstellern zusammen geprobt. Was ein Unterschied. Es liegen Welten dazwischen, ob Bariton Bobby alle Stimmen singt, oder, wie in der Show, dabei von seinen Kolleginnen abgelöst wird. „Was glaubst Du, auf wieviel Dezibel schaffen wir es?“ frage ich meine Stuhlnachbarin Anne Gridley, eine der Hauptdarstellerinnen nach dem finalen Akkord der Show. Sie lacht. „Keine Ahnung. Aber es sind viele!“ Das Playback zumindest hat keine Chance gegen uns 20 Leute.
Und nun sind wir endlich auf „unserer“ Bühne: K2. Vor ein paar Monaten habe ich in genau diesem Raum auf der Zuschauerseite gesessen, gequält von einer grottenlangweiligen Hip-Hop-Performance. Wie die Zuschauer wohl auf unser Stück reagieren? Schließlich ist es erklärtes Ziel der Regisseure, sie herauszufordern. Eine Show ohne Leute, die die Aufführung verlassen, wird als zu nett interpretiert. Während wir uns mit dem neuen Raum vertraut machen, schauen die Regisseure Pavol und Kelly in unregelmäßigen Abständen kurz vorbei und verschwinden wieder.
Transzendenz
Am Ende der Probe gesellt sich Pavol Liska dann für ein paar Minuten zu uns und versucht, uns seine Intention näher zu bringen. „Es geht um Transzendenz. Darum, aus einfachen, banalen Dingen etwas aussagekräftiges Neues zu schaffen.“ Wie immer klingt seine Stimme angestrengt, leicht heiser und sehr intensiv. „Die einzelnen Bewegungen sind gar nichts wert. Der Text ist völlig banal. Aber jeder von uns muss sich herausfordern und an seine Grenzen gehen um aus dem Stoff etwas viel Größeres zu schaffen.“
Tag 4, Freitag, 15.30h, Probebühne 6: Weil die Proben so gut laufen wurde die Vormittagsprobe ausgesetzt. Was für ein Lob. Nun sitzen wir ein weiteres Mal im großen Kreis um Bobby Johanson und arbeiten uns im Schnelldurchgang durch die Partitur. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Hauptdarstellerin Julie LaMendola. Völlig entspannt spielt sie mit ihrem Iphone, checkt ihre Facebookseite, isst Schokolade – und ist gleichzeitig so präsent, dass sie keinen Einsatz verpasst und jeden Textfetzen an genau der richtigen Stelle platziert. Bewundernswert.
„Egal ob Du spazieren gehst, Lebensmittel einkaufst oder zuhause auf der Couch liegst. Du bist immer auf einer Bühne.“ Wo ich diesen Spruch vor vielen Jahren gelesen habe, kann ich nicht mehr sagen. Aber die Präsenz der New Yorker ruft ihn mir im Gedächtnis zurück. Je mehr Zeit wir mit den Hauptdarstellern verbringen, desto mehr begeistern sie mich mit ihrer Ausdruckskraft, ihrer Intensität, ihrer Professionalität. „Wir sind so dankbar, dass wir machen dürfen, was wir lieben“, fasst Performerin Anne Gridley die Situation zusammen. „An Theatern hier in Europa hören wir von Schauspielern Sätze wie: ‚Ich habe noch einen Zweijahresvertrag, alles ist entspannt‘. Diese Situation kennen wir nicht. Für uns kann sich jeden Tag das Blatt wenden und wir müssen zurück in einen langweiligen Bürojob, um die Miete zahlen zu können. Das wollen wir nicht. Deswegen geben wir alles, in jeder Sekunde. Fordern uns ständig heraus und wollen noch mehr!“ Ich behalte für mich, dass ich im Vergleich dazu froh bin, zum ersten Mal seit Probenbeginn so etwas wie ein Gefühl der Routine bei mir zu bemerken.
Tag 5, Montag, 23h, K2: Mist. Vielleicht hätten wir doch lieber noch mehr proben und weniger frei bekommen sollen. „Ihr seid tot. Aber ihr müsst brennen. Alles was in euch ist, was euch lebendig macht, will ich sehen. Ihr müsst das Publikum mit eurem Feuer begeistern. Es hat anderthalb Stunden Langeweile hinter sich, wenn ihr auf die Bühne kommt. Eure Aufgabe ist es, die Zuschauer wieder zum Leben zu erwecken.“ Dieses Fazit wirft uns Regisseur Pavol Liska nach der Durchlaufprobe an den Kopf. In sehr direktem Ton. „Wir könnten ein Jahr damit verbringen, das Feuer in euch zu wecken. Aber die Zeit haben wir nicht. Wir brauchen es jetzt! Und ich sehe es nicht.“
Die Stimmung ist gedämpft und Extras-Kollege Attila Erüstün mit der Welt fertig. „F$%k, F$%k, F$%k – ich konnte doch alles. Warum nichts mehr geklappt??? Ich versteh’s nicht!!!“ führt er einen Monolog auf dem Weg zur Garderobe. Panik und Zweifel sind ihm ins Gesicht geschrieben. Nora Hertlein folgt uns ein paar Minuten später in die Umkleiden und betreibt Schadenbegrenzung. „So schlimm war’s gar nicht! Ihr habt die Schritte und die Musik doch drauf. Jetzt braucht’s einfach noch mehr Energie. Viel Energie! Aber das wird schon.“
Tag 7, Mittwoch, 22.15h, K2: Nach einer zwar langen aber stressfreien und energiegeladenen Durchlaufprobe am Vortag entpuppt sich die Premiere als rauschendes Fest. Das Haus ist voll und die Energie am oberen Anschlag, dort wo sie sein sollte. Ein paar Zuschauer haben das Stück mittendrin verlassen. Andere kichern fröhlich vor sich hin oder lachen lauthals heraus. Von denen, die geblieben sind, sind ganz klar nicht alle begeistert. Dennoch spricht der minutenlange Applaus am Ende der Show für sich.
Auf der Bühnenseite haben sich ein paar kleine Fehler eingeschlichen. Bei mir, bei den anderen, bei den Performern und auch in der Technik. Aber egal. Wolke 7 ist unser. „Warum haben wir bloß nur noch drei weitere Aufführungen? Das ist blöd!“ kommentiert Sopran-Extra Natalie Nüssli nach der Show in der Garderobe, während wir unsere Kostüme, bonbonfarbenen Jogginganzüge, für den nächsten Tag zurechtlegen. Stimmt. Für ein paar Sekunden macht sich vorzeitige Melancholie breit. Niemand von uns will, dass diese Erfahrung endet. Dann stürmen die Hauptdarsteller schweißgebadet aber fröhlich lachend in die Garderobe und Pavol Liska ruft mit einem Strahlen in den Augen „Super Show, Leute, super!“ in den Raum. „Aber morgen machen wir es noch besser!“
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