Kampnagel hat es wieder mal geschafft und in meinem Kunst- und Kultur(er)leben einen neuen Superlativ geschaffen. Nach der absolut fantastischsten Performance (Akram Khan/Vertical Road) und der ebenso – ohne darüber nachdenken zu müssen – schlimmsten (Raz Ohara and the Odd Orchestra) kommt nun die Rubrik “bizarrste Performance” dazu. Dank Annie Sprinkle – Prostituierte, Porno-Star, Aktivistin und PhD.
Annie Sprinkles Auftritt war groß. Der Raum tobte, noch ehe sie die Bühne im Rahmen der Konferenz “Fantasies that Matter” betrat, in der aktuelle Themen hinterfragt wurden, mit denen sich Sex-Arbeiter auseinandersetzen müssen; von Rechtsfragen über die unterschiedliche Behandlung in unterschiedlichen Ländern bis zu Arbeitsabläufen. Und Sprinkle, eine schon den 1970er Jahren aktive Grande Dame der Branche, war Headlinerin des Abends.
Glitzerndes Diven-Kleid mit hochgepushtem Busen, üppige Federkappe, doch gleichzeitig ein schlichtes, fast mädchenhaftes Auftreten, bildeten den Rahmen für ihren Vortrag über ihre äußerst spannende Biografie (Porno-Star, als die Filme noch im Untergrund produziert werden mussten und man für die Arbeit ins Gefängnis kommen konnte; die erste geoutete Prostituerte mit einem Doktortitel; der Wechsel auf die Bühne; neues Leben mit Ökosex; etc.). Und immer wieder äußerste sie während des Diavortrags ihr Unverständnis über die Aktionen und Rechtsänderungen, mit denen unter anderem die US-Amerikanischen Behörden versuchen würden, Prostituierten und den mit ihnen verbundenen Menschen das Leben schwer zu machen. “A friend of mine faces 30 years in jail – and there was no victim! I just don’t understand that!”
Soweit, so normal. Eine wirklich interessante Person, die aus ihrem Leben erzählt. Zum Abschluss des Abends stand dann jedoch noch die oben erwähnte Performance auf dem Programm. Gemeinsam mit anderen Prostituierten und Sexarbeitern wurde ein Masturbations-Ritual inszeniert, das Annie Sprinkle seit etwa 20 Jahren nicht mehr auf die Bühne gebracht hat. Energiekreis, Kerzenschein, Anrufung Verstorbener und Lebender, Männer/Frauen/Transsexuelle, Blut, Erde, Strom, Dildokissen, Joghurt, gegenseitiges Fingern, Bondage – oder auch nur da sitzen und etwas schreiben oder die Präsentation aufzeichnen.
Die meisten der Performer befanden sich im Laufe der Zeit in mehr oder weniger nacktem Zustand – wobei Nacktheit auf der Bühne heute ja schon fast zur Norm gehört und Nacktheit und Sexualität ebenfalls zusammengehören. Keine Überraschung also. Dass die Sexualität dann aber tatsächlich so öffentlich und massiv ausgelebt wurde, überraschte mich dann allerdings schon.
Die Performance führte einem seine eigene Position als Voyeur deutlich vor Augen. Und einiges hätte ich auch gar nicht sehen müssen/wollen. Durch die Menge der sich selbst oder andere Befriedigenden war die Performance auf der anderen Seite aber gleichzeitig auch ein sinnliches Kaleidoskop, das die Energie im Raum deutlich erhöhte. Und sie zeigte auf deutlichste, wenn auch ungewöhnliche Weise die gesunde Einstellung: Egal wer ich bin, was ich bin, wie ich aussehe – ich tue mir gut und nehme mir die Freiheit ich selbst zu sein – mit all meinen (sexuellen) Bedürfnissen.
In einem anderen Kontext als der Konferenz – und an einem anderen Ort als Kampnagel – hätte die Performance das Publikum sicherlich stark polarisiert. Hier war davon nichts zu merken. Hat jemand den Raum verlassen? Ich weiß es nicht. Ich glaube es nicht. Zu sehr hat einen dieses Spektakel der Körper gebannt, das sich präsentierte. Und der minutenlange Schlussapplaus und die Menschenmasse, die sich später aus dem Raum schob, sprechen für sich. Und dennoch – es war definitiv die ungewöhnlichste, bizarrste Performance, die ich bisher gesehen habe.
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