Ein leicht diesiger Morgen in St. Kilda, dem Badevorort Melbourns. Alternativ ist die Szene hier. Von Räucherstäbchenduft durchdrungene Klamottenläden wechseln sich mit Produkt-Designern, Kneipen und Patisserien ab. Der Dresscode lautet „strandtauglich“ und bequem – für den Fall, dass noch die Achterbahn im Lunapark auf dem Tages-Programm steht. Und abends zum Ausgehen natürlich die kleinen Babydoll-Kleidchen, die in diesem australischen Sommer die Kleiderschränke der modebewussten Damenwelt beherrschen.
Einen Pier gibt es in St. Kilda auch. Ein kleines Restaunrant/Café befindet sich darauf, das sich wunderbar für ein entspanntes Frühstück auf dem Wasser eignet. Zur einen Seite kann man die Skyline Melbournes und die Schiffe an dem kleinen Yachthafen beobachten, der vom Pier abgeht. Zur anderen Seite reihen sich die ortsansässigen Angler auf. Einer von ihnen ist Jean Paul.
Jean Paul ist wohl zwischen 75 und 85. Vor etwa 50 Jahren hat der Ungar mit französischen Wurzeln den Sprung von Europa nach Australien gewagt, hat erfolgreich ein Geschäft aufgebaut und genießt nun sein Rentendasein inklusive Apartment mit Blick aufs Wasser. Mehrere Vormittage in der Woche verbringt er angelnd am Pier. Unterhält sich ein wenig wortkarg mit seinen Angelfreunden ähnlichen Alters und genießt das Leben. Er spricht hervorragendes Deutsch (hat einmal drei Jahre in Deutschland gelebt), gibt sich sehr charmant und wenn die Fische nicht beißen ist er einem kurzen Schnack mit Passanten aus aller Welt nicht abgeneigt.
So erstaunt es umso mehr, wenn sich nach den ersten paar Minuten der Tenor des Gesprächs stark verlagert. „Damals“, als er her kam, „war alles so gut und alles so frei.“ Man musste die Türen nicht abschließen und konnte das Geld für den Milchmann abends draußen auf die Veranda legen – und der würde es am nächsten Morgen noch finden. Jetzt würde der Stadtteil von der Russen-Mafia beherrscht, die Chinesen hätten die Preise im Handwerk kaputt gemacht und wegen der Schwarzafrikaner, die sich am Supermarkt träfen, hätte seine Frau so große Angst, dass sie dort nicht mehr einkaufen gehe. „Australien ist kein schwarzer Kontinent! … Die Afrikaner sollen zu Hause bleiben,“ so sein Fazit. Davon abgesehen seien Muslime hinterhältig. Weswegen man bei Reisen in Asien Indonesien möglichst aussparen sollte. Aber Japan sei ok. Und Singapur – „Da ist es so sauber“.
Mag ja sein, dass die Russenmafia Kontrolle ausübt. Und es mag auch sein, dass sich Jean Pauls Frau von Schwarzafrikanern durch deren bloße Präsenz angegriffen fühlt. All diesen Menschen aber gleichzeitig das Recht auf ein Leben in Australien abzusprechen zu wollen, das geht doch etwas weit. Insbesondere die Aussage, „die Afrikaner sollen doch zuhause in Afrika bleiben“, Australien sei schließlich „kein schwarzer Kontinent“, die ist schon gewagt. Es braucht nur einen winzigen Blick in die Geschichtsbücher, und zu klären, dass die Weißen erst vor wenigen Jahrhunderten in diesem Teil der Welt angekommen sind, während die Aboriginals diesen Flecken Erde seit Jahrzehntausenden bewohnen… Und die haben schließlich auch eine dunkle Hautfarbe.
Es ist ja bekannt, dass die Vergangenheit zurückblickend meist verklärt wird. Und Sprüche wie „früher musste man die Türen nicht absperren“ oder „früher war dies ein wirklich freies Land“ sind leicht einzuordnen. Aber wie kann jemand, der selbst als Einwanderer in ein fremdes Land gekommen ist und sich ein neues Leben jenseits seiner Heimat-Tradition aufgebaut hat so vergesslich, so ignorant sein? Wie kann er anderen Einwanderern – egal welcher Hautfarbe – das Recht verweigern wollen, genauso ihr Glück zu machen, wie er es gemacht hat? Und wieso kann er Gegenargumenten noch nicht einmal zuhören, ehe er sie wegwischt?
Da die Fische an diesem Morgen nicht beißen packt Jean Paul nach einer Weile seine Angelruten, Eimer und Köder zusammen und verabschiedet sich von einem seiner Angelkumpels. Er dürfte ein ähnliches Alter haben und wirkt mit seinem weißen Vollbart wie der stereotype, weit gereiste Kapitän. „Bis übermorgen dann!“ verabschiedet sich Jean Paul. Nicht ohne zu bemerken, dass sein Freund aus der Türkei komme und „ein guter Mann“ sei. …und sehr wahrscheinlich Moslem…
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